Durch die Augen des Herrn Hellrung

von Mareike Rabea Knevels

Sonntagmorgen. Die Sonne fällt auf den Simmerner Fruchtmarkt, eine kleine Menschentraube versammelt sich vor dem Pro-Winzkino, eine andere ist gerade in die Stephanskirche gehuscht, aus der wenig später sanft chorale Gesänge über den Platz fließen.
„Manche Dinge erschließen sich erst beim zweiten Sehen“, rückt Hellrung seinen Stuhl in den Schatten der Bühne. Bernd-Rainer Hellrung ist aus Bremerhaven nach Simmern gereist. Rund 530 Kilometer weit ist die Reise. Mit dem Zug und anschließend mit dem Bus von Koblenz nach Simmern, „ist das schon ein gutes Stück“, wie Hellrung sagt.

Hellrung ist in Simmern, weil hier im Rahmen der HEIMAT EUROPA Filmfestspiele Edgar Reitz’ HEIMAT 3 – CHRONIK EINER ZEITWENDE in sechs Teilen gezeigt wird. Das sind anderthalb Tage Kino. Für Hellrung ist das ein Muss.

Realitätsprüfung und Rausch

„Mit dem Wort ‚Aktualitätsbezug’ tue ich mich schwer. Dennoch, als ich damals DIE ZWEITE HEIMAT im Berliner Zeughauskino gesehen habe, war es für mich die beeindruckendste Verfilmung über das Leben von Menschen und was mit ihnen in einer gewissen Zeit passierte. Menschen tragen ja Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich“. Hellrung blickt auf die Banner, die zwischen Parfümerie und Wohnhaus gespannt sind. Es sind die Banner der Heimat-Tetralogie von Edgar Reitz. Sie zeigen unterschiedliche Zeiten, unterschiedliche Leben im Hunsrück.#
„Reitz‘ Filme ließen uns damals eine Realitätsprüfung unterziehen, das war schmerzhaft und ging unter die Haut. Es war eine Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit Deutschlands, vor allem mit Schuld und da lebt natürlich noch einmal etwas in einem auf.“

Als 1984 HEIMAT – EINE DEUTSCHE CHRONIK erschien, war Bernd-Rainer Hellrung 40 Jahre alt und unterrichte als Lehrer in der Oberstufe. „In meiner Schule gab es damals so etwas wie eine Aufbruchsstimmung“. Es gab ein Bedürfnis nach Veränderung und im Lehrerzimmer diskutierten man in heißen Runden. „Natürlich gab es Alfred Hitchcock oder Stanley Kubricks ‚2001: Odyssee im Weltraum’, aber der erste Heimat Teil war ein Ereignis.“
Den sah sich Hellrung im Hamburger Abaton Kino an. Elf Teile über mehrere Tage verteilt. Jeder Teil veränderte ein Stück weit seinen Blick auf das Jetzt, auf die Welt.

„Von früh morgens bis spät abends habe ich auch DIE ZWEITE HEIMAT gesehen, vielleicht über zwei oder drei Tage“. Ein Film, der 1532 Minuten lang ist und aus 13 Teile besteht. „Man kam aus dem Kino heraus und verstand die Welt nicht mehr“, lächelt Hellrung, „es war wie im Rausch, wie ein Genius loci.“

Durch den Blick des Regisseurs

Nun ist er in Simmern um HEIMAT 3 – CHRONIK EINER ZEITWENDE ein zweites Mal zu sehen. Das erste Mal sah er den Film in München und war enttäuscht.
„Es ist gut, wenn man etwas das zweite Mal sieht. Ich glaube, ich war damals enttäuscht, weil die historische Differenz so gering war. Zeitlich war mir das Geschehen zu nah, eben zu meinem eigenen Alter.“

Seine Enttäuschung ist nun verschwunden, aber das liegt nicht nur am zweiten Sehen: Hellrung hat endlich Edgar Reitz-Land bereist, wie er es liebevoll nennt.
Denn nicht nur für Kinofilme reist der pensionierte Lehrer durch Deutschland, sondern auch um die Drehorte mit den Augen des Autors respektive des Regisseurs zu sehen.

„Wer das Dichten will verstehen
Muss ins Land der Dichtung gehen,
Wer den Dichter will verstehen
Muss in Dichters Lande gehen.“

zitiert der einstige Deutschlehrer Johann Wolfgang von Goethes Vierzeiler aus den „Noten und Abgrenzungen zu besserem Verständnis des westöstlichen Divans“.

Literatur-Reisen unternahm er schon zur Schulzeiten mir seinen Schülerinnen und Schülern. Und so ist er am Ende ein wenig verwundert, dass die Heimat-Tetralogie in den hiesigen Schulen nicht ein wenig mehr Anklang findet.
„Wenn ich den Schauplatz des Geschehens erkunden kann, habe ich das Glück etwas zu verstehen und zu sehen, worüber ich vorher nur etwas gelesen haben“. Die Bedeutungszuweisung sei eine ganz andere, lächelt er.

Dann steht Hellrung auf, verlässt den schwarzen Stuhl vor der Bühne und spaziert noch wenig durch Simmern, bevor er sich die letzten Teile von HEIMAT 3 ansieht.